Von Dr. Nico Becherer (Engineering Manager bei Adobe, Theaterregisseur und Impro-Coach)
Das erste Mal, als ich mit dem Thema Improvisationstheater in Berührung gekommen bin, muss irgendwann um das Jahr 1995 herum gewesen sein. Theater war seit meiner Kindheit immer meine große Leidenschaft und ich verbrachte unzählige Tage, Abende und Wochenenden meiner Schulzeit in kleinen, dunklen Kellerräumen, um an Rollen und Monologen zu feilen, Dialoge zu proben, Premieren zu planen oder Bühnenbilder mit meinem Ensemble zu entwerfen. Improvisation nahm dabei zu Beginn nur einen kleinen Teil ein. Sicherlich näherte man sich Charakteren oder Szenen mittels kleiner improvisierter Etüden, aber eine von Anfang bis Ende improvisierte Aufführung? Undenkbar. Wie sollte es möglich sein, ohne gewissenhaften Inspizienten oder stets präsenten Souffleur auf der Bühne zu stehen und spannende Geschichten mit interessanten Figuren aus dem Stegreif zu entwickeln?
Erst einige Jahre später nahm ich auf einem kleinen Theaterfestival an einem Workshop zum Thema Improvisationstheater teil und war sofort von der Idee gefangen. Statt monatelanger Proben und Planung standen plötzlich der Spieler und das Team im Mittelpunkt. Minutiöses Auswendiglernen von Skripten wich der Erforschung spontaner Eingaben und der Erkenntnis, dass das gemeinsame Schwimmen – und manchmal auch Untergehen – im Geschehen auf der Bühne oft erfüllender als jede Planung sein kann.
Für mich war das ein ganz besonderer Augenblick, der vieles, was ich zu diesem Zeitpunkt über Theater zu wissen meinte, auf den Kopf gestellt hat. Einen ganz ähnlichen Moment hatte ich auf meiner ersten Schulung zum Thema Agilität in der Softwareentwicklung. Denkt man einmal genauer darüber nach, erstaunt es, wie sehr sich althergebrachte Entwicklungsprozesse und die Planung und Vorbereitung einer Theaterinszenierung ähneln. Hier wie dort werden Pläne erstellt und ebenso oft wieder verworfen, Meilensteine definiert, Tests und Endabnahmen durchgeführt und irgendwann – hoffentlich zum avisierten Zeitpunkt – ein fertiges Produkt an den Kunden übergeben. Anschließend beginnt das bange Warten auf die Kritik. Wurden die Erwartungen des Rezipienten erfüllt? Wird das Publikum die harte Arbeit, die Nachtschichten und das kreative Herzblut, das in das Projekt geflossen ist, letztendlich wertschätzen können?
Ob dieser Gemeinsamkeiten ist es kaum verwunderlich, dass in beiden Bereichen – der Softwareentwicklung wie dem klassischen Theater – sehr ähnliche Entwicklungen entstanden sind, die dafür sorgen, dass diesen eingefahrenen Prozessen ein neuer und frischer Wind entgegenweht. Sind Improvisationstheater und agile Entwicklung also vielleicht zwei Werk- zeuge aus der gleichen Werkstatt? Ich glaube, vieles spricht dafür. Ein Blick auf das agile Manifest zeigt, wie nahe sich die agilen Werte den Paradigmen und Überzeugungen des Improvisationstheaters sind. Kaum zu verleugnen ist die semantische Nähe der Forderung, Individuen und Interaktionen über Prozesse und Werkzeuge zu stellen, zum Kernsatz des Improvisationstheaters: Der Fluss ist wichtiger als jede Regel. Als Engineering Manager in einem internationalen Softwareunternehmen freut es mich besonders, dass Laura und Robert den Schritt dazu unternommen haben, dieses Buch zu schreiben.
Ich bin überzeugt davon, dass Entwicklungsteams aus den vielfältigsten Bereichen von den hier vorgestellten Übungen und Ideen profitieren können. Obwohl ich viele der darin vorgestellten Übungen seit Jahren selbst regelmäßig in Theater-Coachings und auch mit Entwicklungsteams verwende, überrascht es mich immer wieder von Neuem, wie viel Potenzial in ihnen steckt.
Dem Protagonisten dieses Buches auf seiner Reise zu folgen, hat mir wieder einmal vor Augen geführt, in wie vielen Aspekten sich eine tragfeste Brücke zwischen der Arbeit mit Schauspielensembles und Entwicklern schlagen lässt.
Ich hoffe, Sie haben beim Lesen ebenso viel Vergnügen wie ich. In diesem Sinne: Worauf warten Sie noch?